Russische Musik im frühen 20. Jahrhundert
von Christoph Vratz
von Christoph Vratz
Bescheidenheit geht anders: „Ich bin Gott.“ So schreibt Alexander Skrjabin in sein Tagebuch. Aber „Gott“ ist einsam. Denn er findet keine Jünger, er bleibt ein Solitär, weitgehend unbeeinflusst von Strömungen, Bewegungen Tendenzen. Seine Anfänge sehen allerdings noch anders aus. Skrjabin nimmt Klavierunterricht beim selben Lehrer wie der zwei Jahre jüngere Sergej Rachmaninow; er komponiert Musik von chopineskem Zuschnitt, Etüden, Préludes. Dann beginnt der Weg in die Emanzipation. Skrjabin entwickelt sich zur Sphinx, von der eigenen Berufung überzeugt. Ob er Entwicklungen in seinem Heimatland überhaupt wahrnimmt?
Im frühen 20. Jahrhundert erlangt die russische Musik ein neues Maß an internationaler Aufmerksamkeit: Bassist Fjodor Schaljapin verhilft Modest Mussorgskys Oper Boris Godunow zu Weltruhm, Sergej Diaghilews berühmte Balletttruppe erobert Paris im Sturm, vor allem mit Strawinskys Skandalballett Le sacre du printemps von 1913. Die russische Musik am Vorabend des Ersten Weltkriegs befindet sich jedoch an einem Scheideweg. Traditionalisten und Modernisten geraten in einen erbittert geführten Richtungsstreit. Die einen lehnen Einflüsse moderner Strömungen kategorisch ab. Die anderen suchen nach neuen Wegen.
Gäbe es genaue GPS-Bewegungsprofile von damals, ließe sich im Detail nachweisen, dass bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine vermehrte Emigration russischer Musiker gen Westen einsetzt, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter intensiviert. Die Gründe reichen von schwierigen staatlichen Rahmenbedingungen im Zarenreich über wirtschaftliche Motive bis zu rein künstlerischen. Die auffälligen Achsenverschiebungen zwischen Russland und Westeuropa gewinnen nochmals an Fahrt, als Sergej Diaghilew ab 1904 in Paris Ausstellungen mit alter und neuer russischer Kunst organisiert. Ab 1907 folgen Konzerte mit russischem Schwerpunkt, dirigiert unter anderem von Nikolaj Rimsky-Korsakow. Diaghilew wechselt das Berufsfeld und gründet die „Ballets russes“. Der geniale Netzwerker beweist Näschen: Er verpflichtet den Komponisten Igor Strawinsky, der froh ist, der empfundenen Enge von Sankt Petersburg entkommen zu können. Sein L’oiseau de feu („Der Feuervogel“) verhilft sowohl dem Komponisten als auch dem Impresario zum Durchbruch.
Russische Musiker erlangen im Westen erhöhte Aufmerksamkeit und sorgen damit zugleich für eine größere Popularität ihrer Musik. Doch dieser Weg ist keine Einbahnstraße. Umgekehrt schlagen sich Einflüsse des westlichen Auslands auch in Russland nieder. Bei Sergej Prokofjew etwa: 1918 verlässt er seine russische Heimat in Richtung USA. Freiwillig. Er ist kein politischer Emigrant. Doch die Zeit in Amerika endet für Prokofjew in einem finanziellen (und künstlerischen) Desaster, also kehrt er 1920 nach Europa zurück. Schwerpunkt Paris. 1936 zieht es ihn jedoch wieder in die Sowjetunion zurück, endgültig. Anfangs gilt Prokofjew in seiner russischen Heimat noch als enfant terrible. „Es war, als ob er die Tasten abstaubte und manche dabei, je nach Zufall, hart und trocken niederdrückte“, schreibt die „Peterburgskaja Gazeta“ nach der Uraufführung seines zweiten Klavierkonzerts. Einige Zuschauer verlassen den Saal. Andere rufen: „Zum Teufel mit dieser futuristischen Musik!“ Und: „Wir sind zum Vergnügen hergekommen und nicht wegen solcher Musik, die die Katzen besser machen.“
Im frühen 20. Jahrhundert ringt Russland abermals um eine nationale musikalische Identität. Modest Mussorgsky gilt als ihr wichtigster Wegbereiter, Pjotr Tschaikowsky als einer seiner legitimen Nachfolger. Sergej Rachmaninow verlängert diesen Arm, er bleibt der russischen Musik in seinem Herzen eng verbunden, selbst in seinem Schweizer, später amerikanischen Exil. Prokofjew probiert sich in unterschiedlichen Stilformen. Auch Strawinsky gibt sich als Polystilist. Später sucht Dmitri Schostakowitsch fieberhaft nach Möglichkeiten, um in einem diktatorischen System komponieren und überleben zu können und dabei russisch zu bleiben. Nur einer möchte Solitär sein. Aber Alexander Skrjabin ist ja schließlich auch „Gott“…
Dr. Christoph Vratz lebt in Köln und arbeitet als freier Musikjournalist und Moderator für Konzerthäuser, Festivals und Radiosender wie WDR, SWR und Deutschlandfunk.
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky
03.02.2023
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“
27.02.2023
Violinkonzert D-Dur op. 35
02.06.2023
Streichsextett d-Moll op. 70 „Souvenir de Florence“
Sergej Rachmaninow
15.02.2023
Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30
27.02.2023
Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27
Sergej Prokofjew
31.01.2023
„Romeo und Julia“
03.02.2023
Violinkonzert Nr. 1 D-Dur op. 19 (03.02.23)
12.02.2023
Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur op. 26
Dmitri Schostakowitsch
24.10.2022
Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 „Das Jahr 1905“
27.04.2023
Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47
Alexander Skrjabin
26.11.2022
Klavierkonzert fis-Moll op. 20
Igor Strawinsky
15.02.2023
„Petruschka“ Burleske in vier Bildern