Wie klingen Bilder?
Und wie führt man mit Musik durch eine Ausstellung? Mussorgskys Idee, seinem viel zu früh verstorbenen Künstlerfreund Viktor Hartmann ein musikalisches Denkmal zu setzen, ist in ihrer Umsetzung ebenso einfach wie genial: Mit dem Thema der „Promenade“ werden die Zuhörer bei der Hand genommen und von Bild zu Bild geleitet. Klangfarbenstark eröffnet sich ein buntes Panorama von märchenhaften Gestalten, historischen Gebäuden, tanzenden Küken, streitenden Freunden und spielenden Kindern. In seiner Musik lässt Mussorgsky die Motive Hartmanns lebendig werden und setzt damit dem Freund ein postumes Denkmal, das im Laufe der Zeit einen weitaus größeren Wirkungskreis entwickelte als die Gemälde selbst.
Bild: „Plan für ein Stadttor“ von Viktor Hartmann
Direkt reinhören:
Aus den Katakomben direkt in den Himmel
Mit musikalischen Mitteln springt der russische Komponist in seinem Meisterwerk durch Zeit und Raum: „Il vecchio castello“ führt zu einem italienischen Schloss aus dem Mittelalter, hinter dessen Mauern der melancholische Gesang eines Troubadours erklingt. In den Pariser „Tuileries“ toben Kinder, man hört das Lachen, den Streit und die tröstenden Worte der Kinderfrauen. Ähnlich turbulent geht es auf dem Marktplatz von Limoges zu, wie in einer übermütigen Ballettszene tanzen Kunden, Marktfrauen und eine entlaufene Kuh umeinander. Märchenwesen wie die Hexe „Baba Yaga“ oder der krummbeinige „Gnomus“ humpeln durch die Ausstellung, ein polnischer Ochsenkarren „Bydlo“ schleppt sich schwer beladen vorbei, während die Küken, noch in ihren Eierschalen, freudig hopsen. „Samuel Goldenberg und Schmuyle“ sind in ein Streitgespräch vertieft, der eine reich und dick spricht mit tiefer, bedeutungsschwerer Stimme, der andere, arm und dünn, setzt auf aggressives Jammern. Doch handelt es sich hier wirklich um zwei Personen oder um den vertonten inneren Konflikt eines einzelnen? Mit schweren, getragenen Akkorden leitet Mussorgsky seinen Weg in die Katakomben ein – und trifft hier auf den Geist seines verstorbenen Freundes; „Cum mortuis in lingua mortua“ heißt dieser Werkabschnitt, denn natürlich ist Latein die Sprache der Wahl, um mit den Toten ins Gespräch zu kommen. Bombastisches Glockengeläut und festliche liturgische Klänge stehen am Schluss für „Das große Tor von Kiew“, als führe es direkt in den Himmel.
Durch Ravel zum Erfolg
Das, was schon bei der Beschreibung nach großem Orchestersound, dickem Blechbläsersatz und filigranem Streicherspiel klingt, wurde von Mussorgsky erstaunlicherweise als Klavierzyklus konzipiert. Doch erst durch Maurice Ravels kongeniale Orchestrierung gelangte dieses einzigartige Werk der Programmmusik zu seiner heutigen Berühmtheit. Dabei ist die Version des französischen Komponisten von 1922 längst nicht die einzige Bearbeitung geblieben: Neben kuriosen Fassungen für Salon- oder Jazzorchester entstanden auch andere Orchesterversionen, z.B. von dem legendären Dirigenten Leopold Stokowski oder der Progressive Rockband Emerson, Lake & Palmer.
Bild: „Küken-Skizze“ von Viktor Hartmann